Im Winter 1998 ereignete sich im kanadischen Osten ein folgenschwerer Vorfall. Eisstürme hatten dort binnen kürzester Zeit über 1.000 Hochspannungsmasten lahmgelegt. Die Folge: Einen ganzen Monat lang Stromausfall für mehr als fünf Millionen Menschen. Was war passiert? Zunächst fiel ein Generator aus, der dann zwei andere kurzschloss, welche wiederum andere ausknipsten. Am Schluss knickte das gesamte Stromnetz ein. Es war zu einer fatalen Kettenreaktion gekommen. Wie Dominosteine fiel die hierarchische Systemarchitektur zusammen. Ein wunderbares Beispiel, wie Netzwerke nicht funktionieren.
Genau mit selbigen aber hat sich der Wissenschaftspublizist Michael Gleich beschäftigt. Ein Jahr lang recherchiert und geschrieben, dabei viel Sorgfalt aufgewendet, die Facetten von Netzwerken in Natur, Wirtschaft und Gesellschaft auszuleuchten. Herausgekommen ist das derzeit beste Buch zum Thema. Prägnant und klar. Das beginnt bereits bei der Definition: "Ein Netz ist die Verbindung vieler Lebewesen zu einer neuen, funktionierenden Einheit. Lebewesen sind die Knoten eines Netzes. Es besitzt Eigenschaften, die auf der Ebene seiner Knoten noch nicht existieren. Diese neuen Qualitäten entstehen durch die Zahl und die Anordnung der Knoten und vor allem durch die Interaktionen zwischen ihnen."

Akteure arbeiten also zusammen, um einen größeren Effekt zu erzielen. Dabei sind sie lernfähig, können sich neuen Situationen anpassen und halten ein Gleichgewicht aufrecht. Wann immer ein Impuls von außen kommt, wird er an die richtige Stelle weitergeleitet. Was wiederum klappt, weil alle gleichzeitig mitdenken und kooperativ handeln. Kein Wunder, dass Netzwerke in der Folge auch schnell und angemessen antworten können. Und sie bringen ständig ein Mehr an Möglichkeiten hervor. Etwas, was die Knoten einzeln nicht geplant haben, also etwas, was über die Erwartung hinausreicht. Emergenz wird dieses Phänomen bezeichnet.

Das Herzstück des Buches bilden "die zehn Gesetze der Netze". Einfache Leitsätze, die mit vielen kleinen Reportageschnipseln untermalt werden. Zum Beispiel: Netze leben nichtlinear. Was nichts anderes heißt: Kleine Änderungen erzeugen bisweilen explosive Wirkungen. Man denke nur an die paar Kaninchen, die man in Australien aussetzte, weil einige Farmer gerne auf die Jagd gingen. Heute drohen sie den halben Kontinent abzunagen. Oft dümpelt ein Netzwerk auch jahrelang dahin, bevor es plötzlich zu brodeln beginnt. Malcolm Gladwell nennt dies den Tipping Point. Danach setzt der Run ein. Jeder will dabei sein. Man denke nur an die Entwicklung von Fax, Computer oder Handy.

Stück für Stück entfaltet Gleich eine Theorie der Netzlogik. "Netze erfinden Neues, ordnen Chaos, verzeihen Fehler, nutzen Symbiosen und vereinen Vielfalt." Wer sie verstehen will, bekommt die Chance, sich aktiv einzuklinken. "Jeder von uns kann zu einem aktiven Knoten werden, der Signale in alle Richtungen ausstrahlt. Sie können andere anstecken, sich aufschaukeln, Turbulenzen entfachen, gewaltige Lawinen auslösen." Weshalb auch an dieser Stelle der Begriff Macht ins Spiel kommt. Wenn Netzknoten zu machtvollen Zentren werden und andere in Hierarchie und Abhängigkeit halten wollen, verlassen sie die Netzlogik. Netzwerke mutieren zu Machtapparaten. Mit Hierarchien, Kontrollen und Befehlsempfängern.

Gleich schreibt natürlich intensiver über die Chancen als über die Risiken von Netzwerken. Klar, dass er erwähnt, wie @-Bomben via Internet Rechner in Atomkraftwerken oder in Militäreinrichtungen beeinflussen können. Klar, dass er erwähnt, wie verwundbar etwa die Flugsicherheit dadurch wird. Der bekannte Soziologe Manuel Castells rückt deshalb auch die Menschen, die dahinter stehen, in den Blickpunkt: "Wie Netzwerke arbeiten, hängt in letzter Konsequenz immer davon ab, welcher soziale Akteur sie in welcher Weise programmiert." Netzwerke sind deshalb als Strukturen zunächst wertneutral, "sie morden und sie küssen, je nach Wunsch". Einziger Makel des Buches: Der Frage, ob und wie man Netzwerke kontrollieren kann, ist der Autor nicht nachgegangen. Ebenso wenig der Frage, ob die Zerstörung einzelner Knoten zu größeren Netzwerkschäden führen kann. Wie wir es dramatisch am 11. September letzten Jahres vorgeführt bekamen.

Dennoch: Gleich ist ein Anhänger globaler Netzwerklogik. Und eben kein politischer Kommentator. Ihm geht es um die Konturen einer globalen Netzwerkgesellschaft. Seiner Meinung nach ermöglichen gerade Internet und weltweiter Wissensaustausch bessere soziale, wirtschaftliche und politische Standards. Es werde ein Universalismus gefördert, der die Bereitschaft wachsen lässt, "Probleme über Grenzen hinweg anzupacken. Die Völkergemeinschaft wird permanent herausgefordert, denn durch die zunehmende Verflechtung der Staaten und Regionen besitzt jede bedeutende Frage eine globale Dimension." Und zur Lösung derselben bilden sich temporäre Netze, "die einen Auftrag auf Zeit bekommen und sich auflösen, wenn die Arbeit getan ist". Die Vielzahl der kleinen Lösungen erzeugt schließlich die Gestaltung des Ganzen. "Globales Gehirn" nennen dies Forscher wie Peter Russell oder Howard Bloom. Eine Art kollektive Intelligenz. Unbestechlich.