Was ist
der Mensch? Und was soll er tun? An Antworten auf diese philosophischen
Grundfragen ist beileibe kein Mangel. Berühmte Geistesgrößen haben seit
Jahrtausenden viele kluge Sätze dazu verfasst. Und jetzt kommt ein kleiner
Mathematikprofessor (1,69 Meter nach eigener Angabe), der inzwischen als
Manager bei IBM arbeitet, und will allen Ernstes etwas Neues dazu beitragen?
Gunter Dueck gelingt, was zunächst wie schiere Anmaßung anmutet. Und den
Anschein der Anmaßung lässt er gar nicht erst aufkommen, indem er dem Leser in
einem 400 Seiten langen, ausschweifenden Gespräch ein sehr buntes und sehr
persönliches Bild von sich selbst preisgibt - nichts von einem entrückten
Weisen auf dem Thron der Erkenntnis.
Duecks neuer Denkansatz, der seinen berühmten philosophischen Vorgängern nicht
zu Gebote stand, ist der Computer als Metapher für den Menschen. Das Gedächtnis
als Festplatte mit einer übersichtlichen Dateistruktur, wohlsortierten,
abrufbaren Informationen, das Gehirn als Prozessor, der vorgefertigte Programme
ausführt und damit zu richtigen Ergebnissen kommt - diese naive Vorstellung
greift Dueck auch auf; aber für ihn ist dieser innere PC nur ein Teil des
Menschen, derjenige, den heutige Neurowissenschaftler gerne in der linken
Hirnhälfte ansiedeln.
Ein anderer Teil, vielleicht die rechte Hirnhälfte, ist organisiert wie ein
"neuronales Netz". Das leuchtet ein: Nachdem die Informatiker diese
künstliche Struktur der Anatomie des echten Gehirns nachempfunden haben, wird
das echte Gehirn vielleicht auch einige ihrer Eigenschaften zeigen. Ein
neuronales Netz ist lernfähig, das heißt, es ändert unter dem Einfluss von
Erfahrungen gewisse Stellgrößen ("Gewichte") in seinem Innern so,
dass es am Ende ein neues Erlebnis beurteilen kann: "Das ist eine reife
Frucht", "das ist ein vertrauenswürdiger Mensch". Im Gegensatz
zum Expertensystem in der anderen Hirnhälfte kann ein neuronales Netz seine
Urteile nicht begründen. Selbst eine sorgfältige Inspektion aller Gewichte
würde nicht erklären, wie es zu seinen Schlüssen kommt. Plötzlich habe ich eine
Erkenntnis oder eine feste Überzeugung und kann beim besten Willen nicht sagen,
wie sie zu Stande gekommen ist.
Die dritte Komponente des menschlichen Geistes entstammt nicht der Literatur,
sondern Duecks eigener wissenschaftlicher Arbeit. Sie besteht aus sehr vielen
Elementen, die er "Flash-Mode-Sensoren" oder
"Seismographen" nennt. Man soll sie sich als winzige Unterprogramme
vorstellen, die ständig im Arbeitsspeicher stecken, ihn wegen ihrer Kleinheit
nicht sonderlich belasten und in der Regel nichts tun - es sei denn, es kommt
ein Input, auf den der Sensor geeicht ist. Dann, und nur dann, schlägt er
Alarm; das kann sich in einem Angstausbruch, einem Adrenalinstoß oder auch nur
in Erregung von Aufmerksamkeit äußern. Ein solcher Sensor entsteht durch
einschneidende Erlebnisse, insbesondere durch einschneidende
Erziehungsmaßnahmen. Sein Output erzeugt die Gefühle, die weitgehend unser
Handeln lenken - auf den Pfad der Tugend oder vielmehr der angstvollen
Anpassung, wenn wir, zum Beispiel durch Erziehung, entsprechend konditioniert
sind. Vor allem aber sind unsere eigenen Sensoren uns in der Regel unbewusst;
so erzeugen sie unsere Vorlieben, Abneigungen und Vorurteile, ohne dass wir es
merken.
Zu den verschiedenen Computern in unserem Kopf gehören verschiedene
Menschentypen. Diejenigen, die vorwiegend mit ihrem PC denken, nennt Dueck
richtige Menschen, die mit dem neuronalen Netz die wahren Menschen. Dann wären
die natürlichen Menschen diejenigen, die nur ihrem vorbewussten Sensorensystem
folgen? Nicht ganz. Nach Dueck sind es diejenigen, die vor allem ihrem eigenen
Willen folgen - wie er selbst als Kind: Der Autor spart nicht mit drastischen
Beispielen, und die Geschichte mit dem Pferd ist eines der harmloseren.
Überhaupt versteht er es, seine Typeneinteilung der Menschen mit den buntesten
Erzählungen zu erläutern, was sein Buch ausgesprochen kurzweilig macht. Die
positiv gefärbten Bezeichnungen "richtig", "wahr" und
"natürlich" sind mit Bedacht gewählt; Dueck liebt die Menschen alle,
auch wenn er selbst sich als wahrer Mensch outet und die gegenwärtige Dominanz
des richtigen Denkens als höchst problematisch darstellt.
In der Gesellschaft allgemein, und besonders in der Schule und im Arbeitsleben,
wird das Ideal des richtigen Menschen hochgehalten und durch Einpflanzen
entsprechender Flash-Mode-Sensoren befestigt, um den Preis, dass den wahren und
den natürlichen Menschen wenig anderes übrig bleibt, als ihr Wesen zu
verleugnen oder zu unterdrücken. Weil die Philosophen die Frage "Was soll
der Mensch tun?" allgemeingültig beantworten wollen, statt die
Verschiedenheit der Menschen anzuerkennen, kommt bei dem ganzen Nachdenken nur
Belangloses und/oder Unpraktikables heraus: "Tugend sei das höchste Ziel
des Menschen."
Die Übermacht der richtigen Menschen ist allerdings bedroht. Ihre Stärken sind
nämlich genau diejenigen, in denen ihnen der Computer zunehmend den Rang
abläuft. Was Wunder: Die richtigen Menschen haben den Computer nach ihrem Bilde
geschaffen, und nun wächst er ihnen über den Kopf. Hier knüpft Dueck an seine
Bücher "Wild Duck" und "E-Man" an (Spektrum der
Wissenschaft 11/2000, S. 101 und 9/2002, S. 114) und wagt die Prognose, dass
die Richtigen ihre Führungsrolle in naher Zukunft an die Wahren werden abtreten
müssen.
Mit der Typeneinteilung - die Dueck noch erheblich verfeinert - ist das so eine
Sache. Ich bin bereit, "richtig", "wahr" und
"natürlich" als eine Art von Koordinatensystem zu akzeptieren. Jeder
Mensch ist eine Mischung aus diesen drei "Reinformen", und deren Studium
hilft, mich und andere zu verstehen - was Dueck eindrucksvoll nachweist. Aber
er geht darüber hinaus, indem er behauptet, im Prinzip sei jeder Mensch einer
der Reinformen zuzuordnen, und das sei auch gar nicht schwer herauszufinden:
Eine dreiminütige Selbstdarstellung genüge. Dass regelmäßig eine der
Komponenten dominiere, sei auch nicht weiter verwunderlich: Ein Mischtyp habe
es eben viel schwerer im Leben, weil er die inneren Konflikte zwischen seinen
verschiedenen Komponenten mühsam in jedem Einzelfall lösen müsse.
Das klingt mir zu sehr nach Schubladendenken. Mit diesem Einwand gehöre ich in
die Kategorie "wahrer Mensch", Unterkategorie "Pfarrer und
Menschenversteher"; denn Dueck kann die Menschen bereits nach den
Einwänden, die sie gegen seine Philosophie äußern, in Schubladen einteilen.
Aber das stört nicht besonders. Der wahre Mensch Dueck bietet so viele
originelle und unkonventionelle Gedanken, dass dieses kleine Abgleiten in eine
Unart der Richtigen nicht ins Gewicht fällt. ain for
years to come.