Hinter der ewigen Suche es Menschen nach linearen
Regeln, nach einer Art Weltformel, steht die Sehnsucht nach absoluter Kontrolle
über seine Umwelt.
Dieses Bedürfnis nach
Kontrolle ist aber nichts anderes als die menschliche Angst vor dem Chaos, dem
Zustand vermeintlicher Regellosigkeit. Die Autoren veranschaulichen in sieben
Lektionen und anhand vieler Beispiele aus allen Bereichen des Lebens und der
Wissenschaft, wie im Chaos oft ein erstaunliches Potential an Kreativität und
Weisheit liegt und wie man das nutzen kann.
2. Lektion:
Die Macht des
Schmetterlings
Der subtile Einfluß
Verglichen mit den
Naturgewalten der Erde scheint von einem flatternden Schmetterling keine allzu
große Wirkung auszugehen. Ein altes chinesisches Sprichwort aber besagt, daß
die Kraft von Schmetterlingsschwingen noch auf der anderen Seite des Erdballs
zu spüren sei.
Die Chaostheorie hat
wiederholt auf Fälle hingewiesen, in denen sich dieses Sprichwort buchstäblich
bewahrheitete. Chaos, als Metapher gesehen, kann die herkömmlichen Auffassungen
über Macht und Einfluß, die vorn einzelnen ausgehen, grundlegend verändern.
Das Geheimnis des
amplifizierten Kleinen
Die wissenschaftliche
Erkenntnis über die Wirkungskräfte des Schmetterlings kam durch die Arbeit
Edward Lorenz' zustande, eines Meteorologen, der als einer der Begründer der
Chaostheorie gilt. Lorenz testete ein einfaches Modell zur Wettervorhersage.
Dabei wurden die Daten über Windgeschwindigkeit, Luftdruck und Temperatur in
drei verschiedene Gleichungen eingesetzt, die so miteinander gekoppelt waren,
daß das Ergebnis der einen Gleichung zum Ausgangspunkt für die beiden anderen
wurde; dann wurde der Vorgang wiederholt. Mit anderen Worten, es handelte sich
um eine mathematische Rückkoppelungsschleife. Die Daten zur aktuellen
Wetterlage durchliefen zahllose Schleifen, an deren Ende schließlich die
Simulation des zukünftigen Wetters stehen sollte.
Als Lorenz seine
langen Berechnungen abgeschlossen hatte, mußte er das Ergebnis mehrfach
nachprüfen. Da es noch keine superschnellen Rechner gab, entschied er sich für
eine Abkürzung und führte die Berechnungen nur noch bis zur dritten statt bis
zur ursprünglich sechsten Dezimalstelle durch. Er wußte, daß er sich damit
einen kleinen Fehler von etwa einem Zehntel Prozent einhandelte, und erwartete,
daß auch seine Wettervorhersage um diesen Grad vorn ersten Ergebnis abwich.
Was er nicht
erwartete, war, wie wenig Ähnlichkeit die neue Vorhersage mit jener aufwies,
bei der die Zahlen nicht gerundet waren. Lorenz war sich schnell darüber im
klaren, was dafür verantwortlich war. Da die Ergebnisse auf jeder Stufe der
Berechnung rückgekoppelt oder iterniert wurden und den Ausgangspunkt für die
nächste darstellten, vergrößerte sich die ursprüngliche Differenz schnell zu
einem großen Betrag. Die Schlußfolgerungen, die er daraus zog, ließen ihn zu
einem Begründer der Chaostheorie werden.
Die miteinander
verknüpften Gleichungen in Lorenz' Modell beschreiben ein sogenanntes
nichtlineares System. Solche Systeme weisen die Eigenschaft auf, daß winzige
Einflüsse - wie die geringfügige Abweichung von den ursprünglichen Daten - sich
plötzlich so weit aufblähen können, daß sich das gesamte System verändert.
Lineare Systeme, wie sie von der konventionellen Wissenschaft beschrieben
werden, zeigen bei geringen Einwirkungen kleine Veränderungen. Drückt man sacht
auf das Gaspedal eines Autos, wird es sich langsam beschleunigen - kleine
Ursachen erzeugen kleine Wirkungen. Andererseits kann man (bei einem Automatikgetriebe)
das Gaspedal durchdrücken, so daß sich ein niederer Gang einschaltet. Plötzlich
wird man in den Sitz gepreßt, während der Wagen losschießt. Linearität wurde
von Nichtlinearität abgelöst.
Lorenz faßte die
Nichtlinearität in seinem Wettermodell keineswegs als eine Art Fehler auf,
sondern erkannte, daß der Vorgang, der sich in seinen Gleichungen abgespielt
hatte, auch bei der Entstehung des tatsächlichen Wetters auftritt. Da das
Wetter ein chaotisches System mit zahllosen iterierenden Rückkoppelungen
darstellt, ist es nichtlinear, wodurch es auf winzigste Einflüsse äußerst
sensibel reagiert. Selbst kleine Temperaturerhöhungen, Veränderungen der
Windgeschwindigkeit oder des Luftdrucks, die im System ihre zahllosen Schleifen
ziehen, können weitreichende Auswirkungen haben. Daher stellte er, in Anlehnung
an das erwähnte chinesische Sprichwort, die Frage: "Löst der Flügelschlag
eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas aus?"
Was ist damit
gemeint?
Unter Wetter kann man
die momentanen Fluktuationen verstehen, die im sich selbstorganisierenden
Klimasystem stattfinden. Das Klima bleibt über lange Zeitabschnitte relativ
stabil, und im allgemeinen wiederholen sich in der jeweiligen Wetterlage die
klimatischen Grundstrukturen. Betrachtet man aber Klimastrukturen genauer,
erkennt man, daß das jeweilige aktuelle Wetter den sich ständig verändernden,
amplifizierenden und Bifurkationspunkte erzeugenden Auswirkungen seiner eigenen
Iteration unterworfen ist. So wie ein Fluß seine eigenen Unberechenbarkeiten
erzeugt, die Turbulenz und Wirbel hervorrufen, schafft das Wetter
Zufälligkeiten, die sein wechselhaftes Verhalten bestimmen.
Modernen
Supercomputern stehen mittlerweile riesige Datenmengen zu den gegenwärtigen
Wetterbedingungen zur Verfügung, die in nichtlinearen Gleichungen iteriert
werden, wodurch man zu hinlänglich genauen Aussagen kommt, wie das Wetter in
den nächsten ein bis drei Tagen aussehen wird. Vorhersagen, die über diesen
Zeitraum hinausgehen, oder der Versuch, für einen sehr begrenzten
geographischen Raum eine genaue Beschreibung des Wetters zu liefern, werden
jedoch zunehmend spekulativ. Einer der zahllosen kleinen Schmetterlinge, der
bei der Dateneingabe in den Computer nicht berücksichtigt wird, kann sich dann
entscheidend bemerkbar machen. In einem chaotischen System ist durch positive
und negative Rückkoppelung alles mit allem verbunden. Daher kann in der realen
Welt eine dieser Schmetterlingsschleifen eine Wetterfront ein wenig in diese
oder jene Richtung voranschieben oder eine geringe Temperaturveränderung
veranlassen ... und plötzlich ist eine Grenze überschritten - durch
Rückkoppelung verstärkt sich das Kleine, so daß es sich zum Großen auswächst -,
und das Unvorhergesehene tritt ein.
Nach dieser
Entdeckung von Lorenz stießen Wissenschaftler bei der Erforschung komplexer
Systeme überall auf nichtlineare "Schmetterlings"-Effekte: Schon
wenige Pollensamen können einen Heuschnupfenanfall auslösen, ein winziger
Impuls genügt, um ein gesamtes Neuronenbündel zu aktivieren, Gerüchte und
Spekulationen können zu einem Börsenkrach führen. Jede dieser internen
Schmetterlingsschleifen kann sich durch Rückkoppelung so weit verstärken, daß
sich die Gesamtsituation ändert.
Der Mensch mag
weiterhin davon träumen, alles vorhersagen und kontrollieren zu können, die
Chaostheorie hält dem entgegen, daß selbstorganisierte Systeme angefüllt sind
mit zahllosen Schmetterlingen, die dort in allen Farbschattierungen und
Erscheinungsformen vorkommen. In der Natur, in der Gesellschaft und im
täglichen Leben herrscht das Chaos durch die Kraft des Schmetterlings